„Spontane Abenteuer sind die besten!“, sagt man ja oft. „Bei Gewitter nicht am Wasser oder auf Freiflächen aufhalten!“, haben wir alle schon als Kind gelernt. Und: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“ Was diese Weisheiten mit unserer bisher abenteuerlichsten Wanderung zu tun haben, überlasse ich an dieser Stelle erst einmal deiner Fantasie. Denn eigentlich beginnt unser Tag an Instagrams beliebtestem Bergsee – dem Lago die Braies, zu Deutsch: Pragser Wildsee – ganz beschaulich:
Wir besuchen den See an einem Dienstagmorgen zu Beginn unseres Dolomiten Roadtrips. Das Wetter ist wechselhaft, unsere Beine noch etwas schwer von der letzten Wanderung, „Mal schauen, was der Tag so bringt“ die Einstellung, mit der wir in Freizeitklamotten den großen Schotterparkplatz zum See entlang schlendern. Der größte natürliche See Südtirols macht seinem Ruf als „Perle der Dolomiten“ alle Ehre: Das smaragdgrüne Wasser glitzert in der Morgensonne, eingerahmt von einer imposanten Kulisse aus Bergspitzen und Tannenwäldern. Die Holzboote am Ufer des Sees machen das Postkartenidyll perfekt. Noch – denn schon eine halbe Stunde später strömen die ersten großen Touristengruppen zum See. Nicht ohne Grund suchen Fotografen das beliebte Gewässer meist schon früh am Morgen auf, um ein Foto des noch menschenleeren Sees zu erhaschen. Schnell sichern wir uns eines der letzten Ruderboote und betrachten das bunte Treiben vom Wasser aus.
Wieder am Ufer angelegt, schließen wir uns den Familien und Touristengruppen an, die bereits in Massen um den See pilgern. Ein etwa vier Kilometer langer Rundweg führt über teils breite Wanderwege, teils schmalere Serpentinen vom Hotel Pragser Wildsee einmal um den See herum und zu selbigem zurück. Nicht für uns – vorerst zumindest. Denn auf halber Strecke entdecken wir ein Schild, das uns den Weg zu unserer bisher abenteuerlichsten Bergtour weist: „Rossalm: 3 h 30 “ Klingt erstmal harmlos, oder? Eben. Wir haben genug von Menschenmassen und statt den Seerundweg zu beenden, geht es für uns nun bergauf über den Dolomiten Höhenweg 1 in Richtung Bergalm, deren Namen wir gerade zum ersten Mal gelesen haben.
Vom Hotel Pragser Wildsee auf den Dolomiten Höhenweg 1
Die ersten Meter haben es bereits in sich. Der Weg führt querfeldein über eine steile, kalkfarbene Schotterpiste, die uns hoffen lässt, dass sie nicht repräsentativ für die gesamte Wanderung sein möge. Rote Kreise kennzeichnen den Pfad, den außer uns heute nur ein weiteres Wandererpaar zu bestreiten scheint, die wir etwa auf der Hälfte des Weges überholen und danach nicht wiedersehen. Vielleicht haben sie umgedreht. Vielleicht waren sie schlauer als wir.
Aufstieg mit Hindernissen
In der prallen Mittagssonne kraxeln wir etwa eine Stunde lang den Hang hinauf, der abgesehen von ein paar dürftigen Nadelbäumchen, etwa in der Größe einer Weihnachtsbaum-Jungpflanze direkt nach Anpflanzung, keinerlei Sonnenschutz bietet. Sprich: gar keinen. Langsam verändert sich das Landschaftsbild und aus der kahlen Schotterpiste wird immerhin so etwas wie ein von Bäumen und Wiesen gesäumter Schotterweg. Doch die Freude über den Tapetenwechsel währt nicht lange, als wir feststellen, dass der staubig trockene Aufstieg unsere gesamten Wasservorräte gekostet hat. Und gesamt heißt in diesem Fall 0,75 Liter pro Person. Wer konnte auch ahnen, dass aus einer beschaulichen Bootstour eine insgesamt mehr als sechstündige Wanderung werden würde?
Zu unserer Verteidigung: Bislang hatten wir nie Probleme, auf unseren Wanderungen unsere Wasservorräte nachzufüllen. Irgendwo fand sich immer eine kleine Quelle, ein Brunnen oder eine Hütte, bei der wir unsere Flaschen auffüllen konnte. Diesmal nicht. Keine Quelle, kein Brunnen, keine Hütte. Solltest du also nach oder besser trotz dieses Artikels auf die verrückte Idee kommen, unsere Route nachzuwandern, empfehlen wir auf jeden Fall, ausreichend Flüssigkeit mitzunehmen. Sonst endest du wie Manu auf diesem Bild, der nach ausführlicher auditiver Begutachtung der Umgebung endlich doch eine Quelle entdeckt, deren Nutzung jedoch ihrerseits Kletterkünste erfordert.
Falls ihr euch fragt, was mein Beitrag zur Wassersuche war – Irgendjemand muss das Spektakel ja auch festhalten. 😉
Allein im Hochpustertal
Mit frischem Quellwasser im Gepäck geht es weiter in Richtung Rossalm. Der schmale, steile Pfad führt uns vorbei an dicht bewachsenen Waldstücken, dann wieder durch kahlere, steinige Hochebenen. Wir sind mittlerweile gut zwei Stunden unterwegs und freuen uns schon auf ein kühles Radler und eine deftige Stärkung am Ziel. Vergeblich halten wir nach einem Schild Ausschau, dass die verbleibende Strecke angibt und so folgen wir weiterhin den roten Kreisen am Wegesrand. Wir erreichen eine tiefe Senke, ähnlich einem ausgetrockneten See. Um uns herum schroffe Felswände, trockene Erde und Steine. Es ist still. Kein Vogelgezwitscher, keine Menschen. Kleine Kiesel knirschen unter unseren Wanderschuhen, während wir etwas ratlos das Tal durchqueren.
Zum ersten Mal wird uns bewusst, dass wir abgesehen von der kurzen Begegnung am Anfang die ganze Zeit allein unterwegs sind. Keine anderen Wanderer weit und breit. Dazu muss man sagen: Grundsätzlich genießen wir Stille und Zweisamkeit beim Reisen sehr. Unsere Roadtrips planen wir gern in der Nebensaison, wenn selbst mittlerweile stark durch den Instagram-Tourismus geprägte Reiseziele wie etwa die Lofoten noch den Anschein erwecken, als seien sie gerade erst aus dem Winterschlaf erwacht. Ein wenig stutzig macht es uns aber schon, dass wir an diesem Tag scheinbar die Einzigen sind, die auf die Idee kommen, den Pragser Wildsee als Ausgangspunkt für eine Wanderung zu nutzen. Es ist Juli, mitten in der Hauptsaison. Das Wetter ist heiter bis wolkig (noch), der Aufstieg mittlerweile landschaftlich ansprechend, wenn auch anstrengend. „Wahrscheinlich einfach eine eher unbekannte Wanderroute“, erklären wir uns die unerwartete Einsamkeit und setzen unseren Aufstieg fort.
Wo geht’s denn hier zur Rossalm?
Glockengeläute. Für einen kurzen Moment glauben wir, unserem Ziel nahe zu sein. Warum sollten auf einer Rossalm nicht auch Kühe stehen? Statt einer Alm erreichen wir jedoch eine kleine Weide in einer Senkung, auf der ein paar Kühe genügsam vor sich hin grasen. Uns ist schleierhaft, wie die Tiere hierher gekommen sind, geschweige denn, wem sie gehören. Denn auch hier begegnen wir weder einem Bauern, noch entdecken wir eine Hütte, zu der die Weide gehören könnte. So langsam beschleichen uns Zweifel, ob es sich bei der Rossalm wirklich um eine bewirtete Hütte handelt oder vielleicht doch nur um eine Wiese mit Pferden. Das jedenfalls würde erklären, warum niemand außer uns die Rossalm als Wanderziel auserkoren hat. Andererseits: Ein Wegweiser nur für eine Weide? Wir laufen weiter.
Alm in Sicht
Es zieht zu. Wo vor ein paar Stunden noch blauer Himmel war, durchziehen jetzt dustere Wolken den Horizont. Ein Blick in die Wetter-App zeigt: nichts. Kein Netz. Hätten wir uns denken können. Weit kann es nicht mehr sein, denken wir und setzen unsere Hoffnung auf eine vor uns liegende Anhöhe mit Bank. Wo eine Bank ist, kann auch die Alm nicht weit sein. Logisch, oder? Der nächste Trugschluss. Keine Alm weit und breit, aber immerhin ein Wegweiser, der uns verspricht, dass wir unser Ziel in 30 Minuten erreicht haben werden.
Nach weiteren 20 Minuten dann endlich: Pferde! Ein Anblick, der weder bei Manu noch bei mir unter normalen Umständen Begeisterung ausgelöst hätte. In diesem Fall aber sind sie für uns ein sicheres Indiz dafür, dass wir es bald geschafft haben. Wir haben Hunger, unsere Beine sind schwer und wir freuen uns auf die wohlverdiente Pause.
Noch etwa 15 Minuten wandern wir über Wiesen und Geröll, bis wir hinter einem Hügel das Dach einer Hütte sehen. „Malga Cavalli (Rossalm)“ – Endlich! Wir lassen uns das lang ersehnte Radler zu Bratkartoffeln und Bockwurst schmecken und genießen den beeindruckenden Ausblick auf die imposante, beinahe mystisch anmutende Bergwelt des Naturparks Fanes-Sennes-Prags. Mystisch vielleicht auch deswegen, weil die Gipfel des gegenüberliegenden Gaisl-Massivs mittlerweile in dunkle Wolken gehüllt sind. Außer uns pausieren nur zwei weitere Wandererpaare auf der Hütte, die schon kurz nach unserer Ankunft den Abstieg antreten. Allerdings nicht wie wir in Richtung Pragser Wildsee, sondern über die Plätzwiese bis nach Brückele – Wie wir später erfahren, wohl die üblichere Route bei einem Aufstieg zur Rossalm.
Vom Regen in die Traufe – der Abstieg zum Pragser Wildsee
Noch während wir essen, beginnt es zu regnen. Wir beschließen, unsere Sachen zusammenzupacken und uns auf den Rückweg zu machen. In der naiven Hoffnung, so vielleicht noch vor dem großen Schauer zurück am Pragser Wildsee und unserem Auto zu sein. Schnellen Schrittes und mit Regenjacke (ja, zumindest daran haben wir gedacht), kraxeln wir den Berg wieder hoch, den wir erst vor einer halben Stunde zur Hütte abgestiegen sind. Vorbei an den Pferden, die uns, wenn sie sprechen könnten, vermutlich gefragt hätten, warum wir es plötzlich so eilig haben. Vorbei an den Kühen, die völlig unbeirrt weiter vor sich hin grasen.
Der Regen wird stärker, der Himmel dunkler. Dann plötzlich Blitz und Donner. Wir nicken uns zu und rennen los. Berg auf, Berg ab, über matschige Wiesen und lehmige Erde. Vorbei an dem vom Blitz zerborstenen Baumstumpf, der nun wie ein bedrohliches Mahnmahl wirkt. Ich habe Angst. Der einzige Grund, warum ich mich nicht panisch auf den Boden kauere, ist das letzte Fünkchen Verstand, was mir sagt, dass uns das gerade am wenigsten weiterhelfen würde. Denn was wir beim Aufstieg als Sonnenschutz vermisst haben, fehlt uns jetzt als Unterschlupf. Kein Felsvorsprung, kein Unterstand weit und breit. Nur freie Fläche und vereinzelte Bäume, die teils bereits vorherigen Gewittern zum Opfer gefallen sind.
Der Himmel ist mittlerweile nachtschwarz, wir bis auf die Haut nass. Blitz und Donner ertönen fast synchron. Wir erreichen die Senkung, die auf den Hinweg auch ohne Gewitter schon etwas unheimlich wirkte. Ich gucke nicht viele Filme und doch fühle ich mich plötzlich wie in der Arena der „Tribute von Panem“. Dem Feind machtlos ausgeliefert mit dem einzigen Ziel, die Arena lebend zu verlassen. Man könnte drüber lachen, wäre die Situation für uns gerade nicht wirklich extrem gefährlich.
Blindflug im Hochpustertal
Bäume und Sträucher versperren die ohnehin schon trübe Sicht. Wir haben die Senkung verlassen und ein kleines Waldstück erreicht. Immer noch im Laufschritt bahnen wir uns den Weg durchs Gestrüpp. Den falschen. Plötzlich stehen wir an einem steilen Abhang. Der einzige Weg geht rückwärts. Mein Kloß im Hals wird immer größer. Ich verbiete mir, zu weinen, weil weinen und laufen so schlecht gleichzeitig funktioniert. Auch Manu kann die Angst in seinen Augen nicht mehr verbergen, behält aber zum Glück einen kühleren Kopf als ich und führt uns wieder zurück zum Beginn des Waldwegs. Nochmal von vorne. Diesmal klappt es.
Die letzte Etappe bricht an: Der steile Abstieg über den steinigen Hang, der uns schon beim Aufstieg Kräfte und Wasservorräte gekostet hat. Ans Trinken denken wir gar nicht. In Serpentinen joggen wir wie im Blindflug den Berg hinab. Jede Donnerpause schürt die Hoffnung, das Schlimmste überwunden zu haben. Doch dann wieder: Blitz und Donner. Dass wir nicht ausrutschen oder uns den Fuß vertreten, grenzt an ein Wunder. Es ist erstaunlich, wie der Körper intuitiv das Richtige tut, wenn man den Kopf abschaltet.
Und dann sehen wir ihn wieder: Den Pragser Wildsee. Eingehüllt in eine dunkle Wolkendecke, die noch immer Regen abwirft. Wollten wir heute Morgen noch so schnell wie möglich weg, sind wir jetzt wahnsinnig dankbar, ihn wieder in Sichtweite zu haben. Wir halten kurz inne. Manus Magen hat der Schleudergang für Bratkartoffeln, Bockwurst und Bier nicht gefallen. Beine und Magen krampfen. Kein Wunder – In 1,5 Stunden haben wir knapp 1000 Höhenmeter zurückgelegt. Zur Erinnerung: Für den gleichen Weg haben wir bergauf 3,5 Stunden gebraucht.
Das Gewitter hat sich beruhigt. Es regnet nur noch. Da wir nicht mehr nasser werden können, gehen wir die restlichen hundert Meter entspannter an. Und obwohl unsere Klamotten mindestens doppelt so schwer sind wie zu Beginn dieses unerwarteten Abenteuers, fällt gefühlt mit jedem Schritt in Richtung See ein weiterer faustgroßer Stein vom Herzen ab. Wir haben es geschafft. Noch nicht ganz, aber gedanklich. Wir erreichen das Schild, das uns heute Morgen vom Weg abgebracht hat und beenden den Seerundweg in Richtung Parkplatz. Diesmal ohne Menschenmassen, nur zu zweit. Klitschnass, aber wahnsinnig glücklich.
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